Die Wiege der Bossa Nova liegt in Rio de Janeiro. Am 1959 erscheint das Album "Chega de Saudade" ("Schluss mit der Sehnsucht", vgl. Abbildung, Copyright ® Odeon Records) von João Gilberto, das den Beginn der Bossa-Nova-Ära kennzeichnet. Die Bossa Nova existierte bereits vor diesem Datum, aber ab 1959 entstand die offizielle Geburtsurkunde der der Bossa Nova. Der geschichtliche Hintergrund dazu ist, dass in den 1950-er Jahren die Musiker der Bossa Nova wie Bohemiens lebten. Juscelino Kubitschek wurde als Präsident gewählt, Brasilia wurde zur neuen Hauptstadt ernannt (zuvor war es Rio de Janeiro). Es herrscht im Allgemeinen eine optimistische und euphorische Stimmung.
Der Film "Orfeu Negro" ("Black Orpheus"), das auf das Theaterstück von Vinicius de Morães "Orfeu da Conceição" beruht und mit der Mitwirkung von Antonio Carlos Jobim, Vinicius De Morães und Luiz Bonfá zählt, verhelfen der Bossa Nova zusätzlich zum internationalen Erfolg.
Die Cinema-Novo-Bewegung in der Filmindustrie nahm ihren Lauf. Mit seinem Buch "Revisão critica do cinema brasileiro" spricht sich deren Leader Glauber Rocha zu Gunsten einer neuen Art Film aus, der sich aus den alltäglichen Szenen der Armut Brasiliens entwickeln sollte, ähnlich wie beim italienischen Neorealismus der Nachkriegszeit. Seine berühmtesten Filme sind "Terra em Transe" und "Deus e o Diabo na terra do sol." Auch die Gebiete der Malerei, Theater, Literatur waren in dieser Zeit von grosser Kreativität gekennzeichnet. Ein berühmter Spruch über Rio de Janeiro, der in diesen Jahren entstanden ist, fasst diese Zeit zusammen: "Rio é sal, é sol, é sul" ("Rio de Janeiro ist Salz des Meeres, Sonne, Süden"). Bossa Nova ist nicht nur eine Art Musik sondern auch eine bestimmte Lebensphilosophie. Dieser Begriff wurde jedoch anfänglich abwertend benutzt und als Etikett für alles Moderne und Überraschende verwendet. Der Begriff im heutigen Sinne taucht erstmals 1959 im Stück "Desafinado" ("verstimmt") auf. Dieses Stück ist inzwischen zum Manifest der Bossa Nova geworden, denn es fasst dessen Philosophie zusammen:
Desafinado (1) A. C. Jobim/Newton Mendonça Quando eu vou cantar Você não deixa E sempre vem a mesma queixa Diz que eu desafino Que eu não sei cantar Você é tão bonita Mas tua beleza Também pode se enganar Se você disser que eu desafino amor Saiba que isto em mim Provoca imensa dor Só privilegiados têm ouvido igual ao seu Eu posso apenas o que Deus me deu Si você insiste em classificar Meu comportamento de anti-musical Eu mesmo mentindo devo argumentar Que isto é bossa nova Isto é muito natural (2) O que você não sabe E nem sequer pressente É que os desafinados Também têm coração Fotografei você na minha Rolleiflex Revelou-se a sua enorme ingratidão Só não poderá falar assim do meu amor Que ele é o maior Que você pode encontrar Você com a sua música Esqueceu o principal É que no peito dos desafinados
No fundo do peito bate calado É que no peito dos desafinados Também bate um coração (3) Antonio Carlos Jobim's Kommentar dazu war: "Es ist wirklich kein verstimmtes Lied, denn es klingt absichtlich schräge. Es könnte ein sehr glattes Lied sein, wenn die musikalischen Phrasen am Ende nicht plötzlich abfallen würden. Es ist eine Kritik, die nur Experten vorbringen. Der Typ von nebenan trifft zwar den Ton nicht, aber ist in ein Mädchen verknallt, und er kann es ihr ruhig sagen, weil die Liebe entscheidender ist als die richtige Tonlage. Einige Leute treffen immer den richtigen Ton, aber sie lieben niemanden." In seinem Buch "Verdade Tropical" [São Paulo 2003] schildert Caetano Veloso folgende Anekdote, die einen Freund von ihm machte, als er zum ersten Mal das Stück "Desafinado" von João Gilberto singen hörte: "Caetano, Du liebst ja verrückte Sachen. Du solltest Dir einmal die Aufnahme eines Typen anhören, der total falsch singt. Das Orchester geht in einer Richtung und der Sänger in die entgegengesetzte Richtung." [Ü.d.A.] (4) Dies sollte verdeutlichen, wie die Bossa Nova damals rezipiert wurde. Sie war ganz einfach ein Skandal. Die spezielle Harmonik und die Melodie lassen den Sänger des Stücks als unsicher und verstimmt erscheinen. Nicht zuletzt verspottete die Kritik diesen Stil als "Musik für verstimmte Sänger". Tatsächlich beweget sich die Melodie an der Grenze der Intonation und ist nicht sehr einfach zu singen, da diese meistens aus den Optionen der Akkorde besteht und deshalb in Verbindung mit der Harmonik sehr ungewohnt klingt. Hinzu kommt, dass der Sänger, der gleichzeitig auf seiner Gitarre spielt, den Text eher zu flüstern scheint, als zu singen. Dies lag im Gegensatz zur Gesangsästhetik jener Zeit, bei der man beim Sänger eine opernhafte und starke Stimme erwartete. In der Bossa Nova werden hingegen starke, kontrastierende Effekte, laute Stimme, und ein hohes Stimmregister bewusst vermieden, da dies nicht zu dessen intimen, eleganten und raffinierten Ästhetik passt. Bossa Nova ist näher betrachtet eine vereinfachte Art von Samba, welche Rhythmik Harmonie und Melodie vereint, bzw. auf ein einziges Begleitinstrument und der Stimme reduziert. Nicht zuletzt wurde die Gitarrenbegleitung von João Gilberto "violão gago" genannt, nämlich die "stotternde Gitarre." In Wahrheit sind die Ebenen des Gesangs und der Begleitung nicht entgegengesetzt, sondern in einem raffinierten Spiel und Dialog vereint. Von den brasilianischen Musikern der 1960-er Jahren sind insbesondere Luis Bonfá, Oscar Castro Neves, der Gitarrist Laurindo Almeida (mit dem Stan Getz auch gearbeitet hat), der Pianist Sérgio Mendes, Eumir Deodato, Moacyr Sandos und Dom Um Romão zu nennen. In den 1960-er Jahren sind noch zwei wichtige Ereignisse zu nennen, welche die weitere Entwicklung der Bossa Nova direkt beeinflussten: Im Jahr 1964 zieht Nara Leão mit ihrem Album "Opinião" einen Schlussstrich mit der Bossa Nova und widmet sich den Protestliedern zu. Hier ist zu vermerken, dass in diesem Jahr die Militärdiktatur begann, die bis 1985 hielt. Anderseits moderierte die Sängerin Elis Regina auf TV Record ihr äusserst berühmtes Programm "O fino da Bossa" ("das feinste der Bossa Nova"), das die Berühmtheit sowie die Beliebtheit dieses Genres bezeugen. Bereits Ende der 1960-er Jahre war die Bossa Nova ein überholtes Genre. In der Dekade der 1970-er Jahren kamen vor allem Rock, Punk und Reggae auf, die die Bossa Nova in den Hintergrund stellten, so dass sie eine Zeit lang in Vergessenheit geriet. Erst ab den 1980-er Jahren blühte sie wieder auf. Zu den wichtigsten Interpreten und Komponisten der Bossa Nova ragen vor allem Jobim und Vinicius de Morães hervor, die mit Abstand am meisten zur Entwicklung der Bossa Nova beigetragen haben. Nicht zuletzt stammt der grösste Teil des Repertoires von ihnen, aber auch Johnny Alf, Ronaldo Bôscoli, Chico Buarque, Durval Ferreira, João Gilberto, Nara Leão, Carlos Lyra, Roberto Menescal, Sergio Mendes, Baden Powell, Elis Regina, Toquinho, Caetano Veloso, sollten unbedingt erwähnt werden. Diese Aufzählung ist nicht abschliessend, da es unendlich viele und grosse Talente gibt, die nennenswert wären.
Und zum Abschluss einen Klassiker des Bossa-Nova Repertoires, auch wenn in einem untypischen 3/4-Rhythmus, nämlich "Estrada do Sol" von Antonio Carlos Jobim:
Jolanda Giardiello Anmerkungen: (1) "Verstimmt, falsch gesungen" (2) "Wenn Sie darauf bestehen, mein Vorgehen als antimusikalisch zu bezeichnen, muss ich, selbst wenn es gelogen wäre, antworten: Das ist Bossa Nova. Das ist sehr natürlich." (3) "In der Brust derjenigen, die falsch singen, klopft auch ein Herz." (4), Veloso, Verdade Tropical, S. 30, "Caetano, você que gosta de coisas loucas, você precisa ouvir o disco desse sujeito que canta totalmente desafinado, a orquestra vai pra um lado e ele vai pra outro".
Comments